Urteile Verkehrsrecht

BGH Urteil vom 17.10.95 AZ: VI ZR 358/94

Verkehrsrecht

Elterlicher Haftungsmaßstab für fremde Aufsichtspersonen

Leitsatz

Eine analoge Anwendung des BGB § 1664 auf andere Personen als die Eltern kommt wegen des familienrechtlich geprägten Ausnahmecharakters dieser Vorschrift nicht in Betracht.

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 8. Zivilsenats des

Oberlandesgerichts Oldenburg vom 20. Oktober 1994 aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die

Kosten der Revision, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen

Tatbestand

  1. Die Klägerin macht als Haftpflichtversicherer der bei ihrem Vater mitversicherten M.T. Ausgleichsansprüche gemäß § 426 Abs. 1 BGB aufgrund eines Schadensfalls vom 19. Mai 1987 gegen den beklagten Landkreis geltend.
  2. Die damals 18-jährige M.T. absolvierte im Rahmen ihrer Schulausbildung ein Hauswirtschaftspraktikum bei der Familie S.. Deren Hausgrundstück grenzt mit der Rückseite an den Bahnkörper einer vom beklagten Landkreis als Eigenbetrieb geführten Eisenbahn an. In diesem Bereich ist der Bahnkörper auf beiden Seiten von Buschwerk bewachsen, aber nicht durch Zäune gesichert. Gegen 11.15 Uhr lief die damals 2 1/2-jährige Tochter der Familie S. vom elterlichen Grundstück aus über die Bahnschienen zu einer benachbarten Straße. M.T., die an der Rückseite des Hauses eine Außentür strich, rief das Kind zweimal zurück. Beim Zurücklaufen über die Schienen wurde es von einem Zug erfaßt und schwer verletzt. Ein gegen M.T. eingeleitetes Strafverfahren wegen fahrlässiger Körperverletzung ist nach Zahlung einer Geldbuße eingestellt worden.
  3. Die Klägerin macht geltend, sie habe an den Vater des verletzten Kindes, an die AOK und an den Landkreis C. bisher 260.683,36 DM gezahlt. 80% hiervon – nämlich 208.546,68 DM – verlangt sie als Ausgleich von dem beklagten Landkreis, weil diesem als Betreiber der Eisenbahn wegen mangelhafter Sicherung des Bahnkörpers im Bereich der Wohnbebauung eine Verletzung der Verkehrssicherungspflicht zur Last falle. Auch der Lokführer habe nicht die erforderliche Sorgfalt beachtet. Das von ihm beim Herannahen an die Unfallstelle abgegebene Pfeifsignal habe nicht ausgereicht, zumal im Unfallzeitpunkt neben dem Bahnkörper Kinder gespielt hätten und er deshalb im Schrittempo hätte fahren müssen. Eine Haftung der M.T. komme nicht in Betracht, weil schon deren Aufsichtspflicht fraglich sei, trete aber jedenfalls hinter der Betriebsgefahr der Eisenbahn und der überwiegenden Haftung des beklagten Landkreises zurück.
  4. Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Mit der Revision verfolgt die Klägerin ihren Ausgleichsanspruch weiter.

Entscheidungsgründe

Das Berufungsgericht führt aus, es könne dahinstehen, ob der beklagte Landkreis für die Schäden aus dem Unfall als Betreiber der Eisenbahn nach § 1 Abs. 1 HpflG aus Gefährdungshaftung oder unter dem Blickpunkt einer schuldhaften Verletzung der Verkehrssicherungspflicht bzw. wegen Verschuldens des Lokführers nach § 823 Abs. 1, 831 BGB einzustehen habe. Ein Ausgleichsanspruch, der nach § 67 Abs. 1 VVG auf die Klägerin hätte übergehen können, scheitere jedenfalls daran, daß M.T. für die von dem Kind erlittenen Schäden nicht verantwortlich sei. Zwar ergebe sich ihre Haftungsfreistellung nicht schon aus § 637 RVO, weil diese Vorschrift nicht anwendbar sei, wenn der Betriebsangehörige – hier die in den Haushalt der Familie S. eingegliederte Praktikantin M.T. – den Unternehmer selbst oder dessen Angehörigen verletze. Indessen fehle es an den Voraussetzungen einer Haftung nach § 832 Abs. 1 BGB oder § 823 Abs. 1 BGB. § 832 Abs. 1 BGB setze nämlich voraus, daß M.T. die Führung der Aufsichtspflicht durch Vertrag übernommen habe, während sie vorliegend nur auf Bitte der Kindesmutter gefälligkeitshalber für kurze Zeit die Aufsicht übernommen habe, ohne sich insoweit rechtlich binden zu wollen.

Auch eine Haftung aus § 823 Abs. 1 BGB komme nicht in Betracht, weil der Praktikantin im Rahmen der übernommenen Gefälligkeit das Haftungsprivileg des § 1664 BGB zugutekommen müsse, so daß sie gemäß § 277 BGB nur für Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit hafte. Sie sei nämlich im Unfallzeitpunkt wie eine Familienangehörige in die Familie S. eingegliedert gewesen und habe im Auftrag der Kindesmutter faktisch für eine kurze Zeit die Sorge für das Kind übernommen. Dies sei mit der faktischen Übernahme der Personensorge durch den nicht sorgeberechtigten Vater in Ausübung seines Umgangsrechts vergleichbar, dem ebenfalls nach allgemeiner Meinung in analoger Anwendung der mildernde Haftungsmaßstab des § 1664 Abs. 1 BGB zugebilligt werde. Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit könnten jedoch bei der Praktikantin nicht festgestellt werden. Auch wenn sie das Kind vor dem Unfall zweimal zurückgerufen habe, komme grobe Fahrlässigkeit nur in Betracht, wenn sie zuvor das Herannahen des Zuges bemerkt habe. Hiervon sei jedoch nicht auszugehen, zumal nicht festgestellt werden könne, daß noch unmittelbar vor dem Unfall Pfeifsignale gegeben worden seien.

Auch Bereicherungsansprüche der Klägerin gegenüber dem beklagten Landkreis seien nicht gegeben. Zwar habe die Klägerin mangels Haftung der M.T. die Zahlungen ohne Rechtsgrund erbracht. Hierdurch sei der beklagte Landkreis jedoch nicht bereichert, weil die Klägerin unter Berücksichtigung des Wortlauts der von den Zahlungsempfängern erteilten Abfindungserklärungen die Zahlungen nicht für den beklagten Landkreis habe erbringen, sondern sich nur einen gesamtschuldnerischen Ausgleich gegenüber der Eisenbahn habe vorbehalten wollen. Da die Klägerin auch nachträglich keine andere Leistungsbestimmung getroffen habe, bestehe ein Vorrang der Leistungskondiktion, so daß sie sich an die Zahlungsempfänger halten müsse.

Diese Ausführungen halten den Angriffen der Revision nicht stand.

a. 8 1. Die Revision wendet sich nicht gegen die zutreffenden Ausführungen des Berufungsgerichts zu § 637 RVO und im Ergebnis auch nicht gegen die Verneinung einer Haftung der M.T. aus § 832 Abs. 1 BGB. Sie weist jedoch mit Recht darauf hin, daß in letzterem Punkt der Begründung des Berufungsgerichts nicht gefolgt werden kann. Diese Vorschrift scheidet nämlich als Anspruchsgrundlage schon deshalb aus, weil es nicht um einen Schaden geht, den etwa das Kind infolge mangelhafter Beaufsichtigung einem Dritten zugefügt hätte. Nur auf derartige Schäden bezieht sich jedoch § 832 Abs. 1 BGB (Senatsurteile BGHZ 73, 190, 194 und vom 3. Dezember 1957 – VI ZR 265/56 – VersR 1958, 85, 86), während Schäden, die der Aufsichtspflichtige dem Kind zufügt, nach § 823 Abs. 1 BGB zu beurteilen sind (BGB-RGRK/Kreft, 12. Aufl. § 832 Rn. 8 m.w.N.).

b. 9 2. Zu Recht bekämpft die Revision die Auffassung des Berufungsgerichts, eine deliktische Haftung der M.T. nach § 823 Abs. 1 BGB komme wegen des milderen Haftungsmaßstabs des § 1664 BGB nicht in Betracht.

Die Auffassung des Berufungsgerichts, der Praktikantin müsse im Rahmen der übernommenen Gefälligkeit das Haftungsprivileg des § 1664 Abs. 1 BGB zugutekommen, erweist sich als rechtsfehlerhaft und kann insbesondere nicht auf das in BGHZ 103, 338 ff. abgedruckte Senatsurteil gestützt werden. Dort hat der Senat es für gerechtfertigt gehalten, auch dem nicht sorgeberechtigten Elternteil in Anwendung des § 1664 BGB den milderen Haftungsmaßstab zuzubilligen, wenn er – wie in dem seinerzeit zugrundeliegenden Fall – in Ausübung seines Umgangsrechts nach § 1634 BGB faktisch die Personensorge ausgeübt hat. Diese Erwägungen lassen sich auf den hier zu beurteilenden Sachverhalt nicht übertragen. Der Senat hat in dem genannten Urteil dargelegt, daß die Privilegierung der Eltern im Vergleich zu andern Schädigern, die nach dem allgemeinen Sorgfaltsmaßstab des § 276 BGB haften, auf der familienrechtlichen Verbundenheit mit dem geschädigten Kind beruht, welche der Ausübung der Personensorge ein besonderes Gepräge verleiht. Insoweit hat der Senat es in jenem Urteil von der Interessenlage her nicht als entscheidend angesehen, daß der betreffende Vater die Personensorge nur zeitweilig, nämlich im Rahmen seines Umgangsrechts, ausgeübt hat. Ausschlaggebend war vielmehr, daß entsprechend den Voraussetzungen des § 1664 Abs. 1 BGB tatsächlich die Personensorge von einem Elternteil ausgeübt worden ist.

Damit ist der Streitfall nicht vergleichbar. Auch wenn nach den Feststellungen des Berufungsgerichts eine zeitweilige Ausübung der Personensorge durch die Praktikantin in Betracht kommt, kann dieser schon vom Gesetzeswortlaut her das Haftungsprivileg des § 1664 BGB nicht zugutekommen. Die Erstreckung dieses Privilegs auf andere Personen als die Eltern verbietet sich auch deshalb, weil § 1664 Abs. 1 BGB als haftungsbeschränkende Ausnahmevorschrift einer erweiternden Auslegung nicht zugänglich ist und einer Rechtsanalogie jedenfalls die besondere familienrechtliche Ausprägung – nämlich die Voraussetzung eines Eltern-Kind-Verhältnisses – zwingend entgegensteht. Im übrigen würde die vom Berufungsgericht angestrebte Analogie zur Folge haben, daß bei allen Personen, die unter Eingliederung in die Familiengemeinschaft im Auftrag der Eltern die Aufsicht über ein Kind ausüben, eine Haftungsmilderung nach dem Maßstab des § 277 BGB in Betracht käme. Das aber würde den Schutz der Kinder vor Fahrlässigkeit ihrer Aufsichtspersonen in unvertretbarer Weise einschränken und wäre deshalb mit dem Ausnahmecharakter des § 1664 BGB schlechterdings nicht zu vereinbaren.

Kommt mithin aus Rechtsgründen eine Anwendung des milderen Haftungsmaßstabs nach § 1664 Abs. 1 BGB auf die Praktikantin nicht in Betracht, so wird das Berufungsgericht weitere Feststellungen dazu zu treffen haben, ob unter Anwendung des Sorgfaltsmaßstabs des § 276 BGB die Voraussetzungen für eine Haftung der M.T. nach § 823 Abs. 1 BGB gegeben sind. Soweit der beklagte Landkreis hiergegen einwendet, es fehle sowohl an einer Übertragung der Aufsichtspflicht auf die Praktikantin als auch an deren Willen, sich rechtlich zu binden, ist nach den Feststellungen im angefochtenen Urteil davon auszugehen, daß die Praktikantin die Beaufsichtigung des Kindes im Unfallzeitpunkt auf Bitten der Mutter gefälligkeitshalber übernommen hatte. Unstreitig hat sie durch zweimaliges Zurückrufen des Kindes die Aufsicht auch ausgeübt. Hierdurch kann, wenn ihr insoweit Fehler unterlaufen sind, eine Haftung ausgelöst worden sein, weil im Bereich des § 823 Abs. 1 BGB anders als bei einer Verletzung der Aufsichtspflicht gegenüber Dritten nach § 832 Abs. 1 BGB ein Wille des Aufsichtsführenden zu vertraglicher Bindung nicht erforderlich ist (Senatsurteil vom 2. Juli 1968 – VI ZR 135/67 -VersR 1968, 1043, 1044 f.; BGB-RGRK (Kreft), aaO, § 832 Rn. 5, 22, 25).

Ob die Praktikantin fahrlässig gehandelt hat, läßt sich dem Berufungsurteil nicht zweifelsfrei entnehmen. Selbst wenn die Ausführungen im Berufungsurteil, es komme allenfalls leichte Fahrlässigkeit in Betracht, bereits als abschließende Bewertung zu verstehen sein sollten, wird das Berufungsgericht jedenfalls als weitere Voraussetzung eines Ausgleichsanspruchs nach § 426 Abs. 1 BGB zu prüfen haben, ob gemäß § 840 Abs. 1 BGB auch die Voraussetzungen einer Haftung des beklagten Landkreises gegeben sind. Insoweit hat die Klägerin sowohl ein Verschulden des Lokführers wie auch eine Verletzung der Verkehrssicherungspflicht durch den Eisenbahnbetreiber und daneben eine Haftung aus der Betriebsgefahr der Eisenbahn nach § 1 Abs. 1 HpflG geltend gemacht. Hierzu sind bisher jedoch keine Feststellungen getroffen worden.

Bei dieser Sachlage erübrigen sich Ausführungen dazu, ob ein Anspruch der Klägerin auch unter dem Blickpunkt ungerechtfertigter Bereicherung nach § 812 BGB in Betracht kommt.

Da das angefochtene Urteil nach alldem keinen Bestand haben kann, war es aufzuheben und die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, damit unter Beachtung des oben zum Haftungsmaßstab dargelegten Rechtsstandpunkts die erforderlichen Feststellungen getroffen werden können.