Vorträge

A. Einleitung

Bundesweit gab es im Dezember 2001 über 8.000 zugelassene Pflegeheime mit vollstationärer Dauerpflege. Insgesamt wurden hier über 600.000 Pflegebedürftige betreut. Wegen der längeren Lebenserwartung steigt die Zahl der älteren Menschen absolut und in Verbindung mit einer abnehmenden Zahl von Geburten auch ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung.

Die „Rürup-Kommission“ geht deswegen in ihrer Prognose zur Bevölkerungsentwicklung davon aus, dass die Zahl der Pflegebedürftigen der sozialen Pflegeversicherung von derzeit rd. 1,9 Mio. bis zum Jahr 2040 auf rd. 3,4 Mio. (stationär und ambulant) ansteigen wird (Seite 107).

Der Anteil Demenzkranker unter den pflegeheimbewohnern liegt bei über 50 % mit steigender Tendenz (S.199). Demenz bedeutet Desorientiertheit, unkontrollierte Hyperaktivität, akute Verwirrtheit verbunden mit der Unfähigkeit, sich frei zu bewegen. Dies ist eine der schlimmsten Bedrohungen für ein selbst bestimmtes Leben im Alter. Körperlicher, geistiger und psychischer Leistungsverlust bedingen und verstärken sich gegenseitig.

Risikofaktoren

1) Funktionseinbußen und Funktionsbeeinträchtigungen

  • Probleme mit der Körperbalance/dem Gleichgewicht
  • Gangveränderungen/eingeschränkte Bewegungsfähigkeit
  • Erkrankungen, die mit veränderter Mobilität, Motorik und Sensibilität einhergehen
    • Multiple Sklerose
    • Parkinsonsche Erkrankung
    • Apoplexie/apoplektischer Insult
    • Polyneuropathie
    • Osteoathritis
    • Krebserkrankungen
    • andere chronische Erkrankungen/schlechter klinischer Allgemeinzustand

2) Sehbeeinträchtigungen

  • reduzierte Kontrastwahrnehmung
  • reduzierte Sehschärfe
  • ungeeignete Brillen

3) Beeinträchtigung der Kognition und Stimmung

  • Demenz
  • Depression
  • Delir

4) Erkrankungen, die zu kurzzeitiger Ohnmacht führen

  • Hypoglykämie
  • Haltungsbedingte Hypotension
  • Herzrhythmusstörungen
  • TIA (Transitorische ischemische Attacke)
  • Epilepsie

5) Inkontinenz

  • Dranginkontinenz
  • Probleme beim Toilettengang

6) Angst vor Stürzen

7) Sturzvorgeschichte

8) Personenbezogene Gefahren

  • Verwendung von Hilfsmitteln
  • Schuhe (Kleidung)

9) Medikamente

  • Psychopharmaka
  • Antidepressiva
  • Neuroleptika
  • Sedativa/Hypnotika
  • Benzodiazepine

10) Gefahren in der Umgebung

Innen:

  • Schlechte Beleuchtung
  • Steile Treppen
  • Mangelnde Haltemöglichkeiten
  • Glatte Böden
  • Stolpergefahren (z. B. Teppichkanten, herumliegende Gegenstände, Haustiere)

Medien, Gesellschaft, Staat, Gesetzgebung, Gerichte, Forschung, die Medizin und betroffene Einrichtungen befassen sich immer gründlicher mit diesem Phänomen. Vorrangig geht es darum, Standards der Pflege in geriatrischen Kliniken, Altenheimen und Pflegeheimen zu entwickeln, die möglichst auf Rehabilitation gerichtet sind. Vor allem in den Pflegeheimen – aber nicht nur dort – sind die Bewohner vor Stürzen zu bewahren, die zu den großen Gesundheitsrisiken im Alter zählen. Laut einer internationalen Studie zur Vorbeugung von Stürzen in der stationären Altenpflege belaufen sich die Operations- und Behandlungskosten nach Stürzen bundesweit auf rund eine Milliarde Mark pro Jahr. Jeder Sturz kann eine Rehabilitation endgültig unmöglich machen.

Es geht schlicht um die Frage, welche Maßnahmen die Einrichtungen ergreifen dürfen und sollen, um die Schutzbefohlenen unter Wahrung der Menschwürde vor körperlichen Schäden zu bewahren.

Die oberstgerichtliche Haftpflicht-Rechtsprechung begleitet diese Entwicklungen eher zurückhaltend und sicherlich nicht in jeder Hinsicht sachkompetent. Die Urteile bleiben oft an der Oberfläche des komplexen Sachverhalts, was daran liegen mag, dass die Kläger nicht hinreichend die geltend gemachten Regressansprüche durch Sachvortrag untermauern.

Vor allem wird offensichtlich nicht erkannt, welches Arsenal an Maßnahmen den Einrichtungen zur Verfügung steht, um Stürze zu vermeiden oder, was diese zu tun haben, den Vorwurf eins Organisationsverschulden abzuwenden. Nach Begriffen wie Sturzmanagement oder Sturzprophylaxe sucht man in der einschlägigen Rechtsprechung vergeblich.

Auf die Darstellung, ob und wie die aufnehmende Einrichtung in Kooperation mit dem behandelnden Arzt und möglicherweise einem Psychologen sowie den Angehörigen den künftigen Bewohner unter Einsatz von Testverfahren befragt hat, um die körperlichen, neuropsychologischen und kognitiven Fähigkeiten zu bestimmen, wird verzichtet.

Von den Möglichkeiten eines geriatrischen Assessments, in dessen Verlauf die medizinischen, psychischen, sozialen und funktionellen Einschränkungen und Ressourcen des künftigen Bewohners erfasst und protokolliert werden, scheint man noch nicht gehört zu haben. Die Verpflichtung der aufnehmenden Einrichtung, im Zweifelsfall die Aufnahme abzulehnen, wenn es die Sicherheit des Interessenten unter Beachtung der Anamnese nicht gewährleisten kann, wird nicht thematisiert.

Erst die Ergebnisse einer solchen Anamnese in Verbindung mit dem Bericht des behandelnden Arztes ermöglichen jedoch Prognosen für eine Sturzgefährdung des künftigen Bewohners oder Patienten. Sie sind Grundlage für den individuellen täglichen Behandlungsplan eines jeden Schutzbefohlenen, der zudem die Wirtschaftlichkeit und die zur Verfugung stehenden Ressourcen der Einrichtung zu beachten hat.

Er ist ständig von der verantwortlichen Pflegekraft fortzuschreiben. Pflegedokumentationen, in denen Verhaltensauffälligleiten – vor allem vorangegangene Stürze – festzuhalten sind, werden nicht herangezogen, usw. Völlig unzureichend ist es, wenn darauf verzichtet wird, aufzuklären, welche sedierenden Medikamente – vor allem Psychopharmaka – in welcher Dosierung dem Betreffenden ärztlich verordnet worden sind, und was ihm das Pflegepersonal laut Dokumentation verabreicht hat (Problem der bevorratenden Medikation). Medikamente dieser Art erhöhen häufig die Sturzgefahr.

Skandalös ist es, wenn Gerichte zwar eine Sturzgefahr bestätigen, aber dann kuzschlüssig meinen, die Einrichtung habe ein Bettgitter nicht verwenden dürfen, weil dies freiheitsentziehend wirke, ohne zu erwägen, welche anderen Maßnahmen in Frage kommen könnten, oder ob das Vormundschaftsgericht einzuschalten ist (§1906 BGB). Siehe hierzu im Einzelnen der Katalog möglicher Maßnahmen am Ende dieser Ausführungen.

Möglicherweise verzichten vor allem Altenheime und Pflegeheime häufig darauf, alternative Schutzmaßnahmen zu erwägen, weil sie höhere Folgekosten für Sonderanschaffungen scheuen und stattdessen auf die normale Ausstattung der Einrichtung zurückgreifen oder von vornherein darauf verzichten. Die Pflicht der GKV zur Versorgung der Versicherten mit Hilfsmitteln nach der gesetzlichen Konzeption des SGB V und SGB XI endet dort, wo bei vollstationärer Pflege die Pflicht des Heimträgers zur Versorgung der Heimbewohner mit Hilfsmitteln einsetzt. Es verwundert nicht, daß in jüngster Zeit die Regressabteilungen der Kranken – und Pflegekassen wegen der immens hohen Folgekosten immer häufiger in Sturzfällen unter Hinweis auf die Obhutsverpflichtungen der Einrichtungen Schadensersatzansprüche geltend machen.

Der Referent für Medizinschadenfälle bei der GVV-Kommunalversicherung in Köln meint die Versicherungen seien der Auffassung, in den Einrichtungen müsse rund um die Uhr eine lückenlose Überwachung der Bewohner und Patienten sichergestellt werden. Aus deren Sicht sei es belanglos, ob dies gegen den Willen der Betroffenen geschehe und ob Zwangsmaßnahmen eingesetzt werden.

Diese Pauschalierung wird sicherlich nicht der Wirklichkeit gerecht. Richtig ist aber: Es ist außerordentlich dringlich, den Einrichtungen und den gerichtlich bestellten Betreuern die rechtlichen Handlungsvorgaben möglichst übersichtlich nahe zu bringen, ja sie in gewisser Weise im eigenen Interesse und im Interesse der Schutzbefohlenen zu erziehen. Gerichte einschließlich der Vormundschaftsgerichte, Rechtsanwälte und Regressabteilungen müssen im Zusammenwirken mit dem Gesetzgeber für eindeutige Vorgaben sorgen. Im Hintergrund sind zahlreiche Instanzen für das Einhalten der erforderliche Betreuungsqualtität zuständig:

Verlangt der Geschädigte oder seine Kranken – oder Pflegeversicherung Schadensersatz, sind einige Besonderheiten zu beachten. Die betreuende Einrichtung ist grundsätzlich aufgrund des Behandlungs- bzw. Heimvertrages sowie Deliktsrechts (Verkehrssicherungspflichten) verpflichtet, für seine Patienten bzw. Bewohner Gefahrenquellen zu vermeiden und zu beseitigen. Sie muss alle zumutbaren Maßnahmen zur Schadensabwehr treffen. Kommt sie diesen Pflichten nicht nach und verursacht dadurch Schäden, hat sie für diese grundsätzlich einzustehen.

Die Vertrags- und Verkehrssicherungspflichten sind regelmäßig unter Abwägung der Rechte des Einzelnen und der Funktionsfähigkeit der Einrichtung zu ermitteln. Der Geschädigte trägt in der Regel die Beweislast für alle anspruchsbegründenden Voraussetzungen wie Vertrags – bzw. Rechtsgutsverletzung, Schaden, Kausalität und Verschulden. Dies wird ihm häufig sehr schwer gelingen, da ihm der Einblick in die Sphäre des Krankenhaus- bzw. Pflegeheimbetriebes fehlt. Aus diesem Grunde greifen zugunsten des Geschädigten Beweiserleichterungen ein. Dies ist im Folgenden das zentrale Thema.

Hierzu einige einschlägige Texte:

  • Pflegequalitätssicherungsgesetz (PQsG), Stand 2002, PDF-Format
  • Entwurf der Pflegeprüfverordnung (noch nicht in Kraft getreten)
  • Empfehlungen zur Überprüfung der Qualität von Pflegeheimen des BMG
  • MDK-Anleitung zur Prüfung der Qualität nach § 80 SGB XI-stationär, PDF
  • Die Pflegeversicherung – Prüfverordnung des BundesministeriumsGesetzlichen Grundlagen zur Qualitätssicherung Aufsatz von Nicolas Starck
  • Die Pflegeversicherung – Gesetzliche grundlagen zur Qualitätssicherung – Aufsatz von Nicolas Starck
  • Heimgesetz (HeimG), Stand 2002, PDF
  • Das neue HeimG – Zusammenfassung und Umsetzung

Diesen Vortrag als PDF herunterladen