{"id":1999,"date":"2020-02-12T13:36:44","date_gmt":"2020-02-12T12:36:44","guid":{"rendered":"https:\/\/ratgeber-arzthaftung.de\/de\/?p=1999"},"modified":"2024-03-13T21:18:52","modified_gmt":"2024-03-13T20:18:52","slug":"langfassung-wehensturm-ein-bericht-der-sueddeutschen-zeitung-von-katrin-langhans-mit-zitaten-von-rain-ruth-schultze-zeu","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/ratgeber-arzthaftung.de\/de\/langfassung-wehensturm-ein-bericht-der-sueddeutschen-zeitung-von-katrin-langhans-mit-zitaten-von-rain-ruth-schultze-zeu\/","title":{"rendered":"LANGFASSUNG – Wehensturm – ein Bericht der S\u00fcddeutschen Zeitung von Katrin Langhans mit Zitaten von RAin Ruth Schultze-Zeu"},"content":{"rendered":"
Katrin Langhans, S\u00fcddeutsche Zeitung, 12.02.2020 | Cytotec ist in Deutschland nicht zugelassen, um Geburten einzuleiten. Trotzdem wird die Pille tagt\u00e4glich genau daf\u00fcr eingesetzt.<\/strong><\/p>\n Irgendwann h\u00f6rte sie Emils Herz nicht mehr. Diese Stille war schlimmer als der Schmerz, der seit Stunden durch ihren Unterleib jagte, schlimmer als die Atemnot, schlimmer als das Gef\u00fchl, ihr Bauch w\u00fcrde in zwei Teile gerissen. So schildert sie heute die Geburt ihres Kindes vor acht Jahren.<\/p>\n Die \u00c4rztin fand die Herzt\u00f6ne von Emil nicht, erinnert sich Amelie Reimann. Ihre Wehen dauerten seit Stunden an, sie war ersch\u00f6pft, erwartete ihr erstes Kind. Drei Minuten. Vier Minuten. Warum schlug sein Herz nicht? F\u00fcnf Minuten, sechs Minuten, sieben, es pochte. Eine Linie erschien auf dem Monitor, schlug aus, als zeichne Emils Herzschlag Badewannen.<\/p>\n Die \u00c4rzte beobachteten Emils Herzschlag. Irgendwann piksten sie dem Baby in Amelie Reimanns Bauch in den Kopf, untersuchten die Blutwerte, zwei Mal, weil sie sich das Ergebnis nicht erkl\u00e4ren konnten. Dann ging alles ganz schnell. \u201eBefreien Sie mich von diesen Schmerzen\u201c, schrie Amelie Reimann und es wurde dunkel. Notfallkaiserschnitt.<\/p>\n Der kleine Emil kam ersch\u00f6pft zur Welt, sein Arm hing schlaff herunter, er schrie nicht, er st\u00f6hnte leise, zeigte keine Reflexe, atmete nicht. All das l\u00e4sst sich anhand von Krankenhausakten, Gespr\u00e4chen und medizinischen Gutachten rekonstruieren.<\/p>\n \u201eH\u00e4tte ich gewusst, dass mein Kind um sein Leben k\u00e4mpft, h\u00e4tte ich das ganze Krankenhaus zusammengebr\u00fcllt\u201c, sagt Amelie Reimann. Sie sitzt an ihrem K\u00fcchentisch und reiht Emils Herzt\u00f6ne aneinander, Dokumente, auf denen zackige Ausschl\u00e4ge zu sehen sind.<\/p>\n Jedes Mal, wenn Reimann auf den Verlauf der Herzt\u00f6ne schaut, sieht sie den \u00dcberlebenskampf ihres Sohnes. Minuten, in denen Emil zu wenig Sauerstoff bekam, Minuten, die wohl dar\u00fcber entschieden haben, dass Emil heute, mit acht Jahren, noch eine Windel tr\u00e4gt, nicht sprechen und sich nicht allein die Jacke anziehen kann.<\/p>\n Amelie Reimann und Emil hei\u00dfen anders, die Mutter m\u00f6chte anonym bleiben, weil die Rechtsstreitigkeiten mit der Klinik noch laufen.<\/p>\n Erst Wochen nach der Geburt erf\u00e4hrt Reimann von einem befreundeten Gyn\u00e4kologen, dass sie im Krankenhaus eine Tablette bekommen hat, die in Deutschland gar nicht f\u00fcr die Geburtshilfe zugelassen ist. Cytotec ist ein Magenschutzmittel, das f\u00fcr die Behandlung von Magenschleimhautsch\u00e4digungen und akuten Magengeschw\u00fcren entwickelt wurde. \u00c4rzte aber verwenden es, um F\u00f6ten abzutreiben und Wehen einzuleiten, weil man zuf\u00e4llig entdeckt hat, dass es die Geb\u00e4rmutter anregt.<\/p>\n Die US-amerikanische und die franz\u00f6sische Gesundheitsbeh\u00f6rde warnen seit Jahren vor Cytotec, weil die Studienlage schlecht ist. M\u00fctter starben, weil ihre Geb\u00e4rmutter nach der Gabe von Cytotec gerissen war. Kinder kamen behindert zur Welt, weil sie durch die extrem starken und dichten Wehen an Sauerstoffmangel litten. Ein Wehensturm kann sich f\u00fcr das Kind so anf\u00fchlen, als w\u00fcrde man seinen Kopf immer wieder unter Wasser dr\u00fccken und ihm beim Auftauchen kaum eine Chance geben einzuatmen. Heute kann Reimann in einem Gutachten nachlesen, dass Emil einen Wehensturm erlebt hat.<\/p>\n Cytotec, sechs Ecken, gro\u00df wie ein Smartie, verwenden \u00c4rzte in der Geburtshilfe, um Wehen einzuleiten. Die Tablette kostet ein paar Cent, Alternativen liegen meist im dreistelligen Bereich. Es gibt Hinweise darauf, dass Geburten mit Cytotec schneller verlaufen und mit weniger Kaiserschnitten, weil es sehr effektiv ist. Aber weil die Datenlage schlecht ist, l\u00e4sst sich nicht sagen, wie viele Todesf\u00e4lle und Gehirnsch\u00e4den das Mittel schon verursacht hat.<\/p>\n Amelie Reimann zieht ein Foto aus ihrem Ordner. Emil, so wie sie ihn nach der Narkose das erste Mal gesehen hat.<\/p>\n Ein Schlauch h\u00e4ngt an seinem Arm, er bekommt Medikamente. \u201eEr war das sch\u00f6nste Baby weit und breit\u201c, sagt Reimann. Seine ersten Tage verbrachte Emil in einem anderen Krankenhaus auf einer Kinderintensivstation. Als Amelie ihren Sohn zum ersten Mal halten darf, muss sie aufpassen, dass sie die Kabel nicht verr\u00fcckt.<\/p>\n Wegen Cytotec ziehen Frauen in Frankreich und Deutschland vor Gericht; auf den Bahamas, in D\u00e4nemark und den USA warnen M\u00fctter vor dem Mittel. Das Bundesinstitut f\u00fcr Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), das Nebenwirkungen \u00fcberwacht, wei\u00df nur von einem einzigen Kind in Deutschland, das nach der Gabe von Cytotec verstarb, und von keinem, das mit einem Gehirnschaden zur Welt kam \u2013 das zeigt eine Auswertung der gemeldeten Komplikationen, die SZ und Bayerischer Rundfunk einsehen konnten. Der Beh\u00f6rde sind nicht einmal die F\u00e4lle bekannt, in denen Gerichte Familien bereits Schmerzensgeld zugesprochen haben.<\/p>\n SZ und BR haben Urteile, Gutachten, Warnungen und Fallberichte aus der ganzen Welt ausgewertet, unver\u00f6ffentlichte Akten gesichtet und M\u00fctter und V\u00e4ter gesprochen, deren Kinder nach der Gabe von Cytotec behindert auf die Welt kamen.<\/p>\n Googelt man die Pille Cytotec, findet man im Netz den Beipackzettel. Bei Cytotec kann es in seltenen F\u00e4llen zu einer Uterusruptur kommen, hei\u00dft es da, au\u00dferdem zu einer \u00dcberstimulation der Geb\u00e4rmutter, einer fr\u00fchzeitigen Plazenta-Abl\u00f6sung und zu einem Geburtsschaden. Es ist bei Schwangeren kontraindiziert. Seit 2006 ist das Mittel nicht mehr auf dem deutschen Markt, der Hersteller Pfizer stoppte den Vertrieb hierzulande \u201eaus ethischen Gr\u00fcnden\u201c, hie\u00df es damals. Auf Anfrage schreibt Pfizer heute, es gebe keine ausreichenden, randomisierten und verblindeten Studien, die eine Anwendung zur Einleitung der Geburt rechtfertigen w\u00fcrden.<\/p>\n Schuld ist eine Gesetzesl\u00fccke. Sie nennt sich Off-Label-Use. Innerhalb ihrer Therapiefreiheit k\u00f6nnen \u00c4rzte Tabletten verschreiben, die nicht zugelassen sind, wenn sie Patienten dar\u00fcber aufkl\u00e4ren. Sie k\u00f6nnen daf\u00fcr Pr\u00e4parate aus dem Ausland importieren. Das ist sinnvoll, wenn sie Patienten behandeln, denen zugelassene Medikamente nicht mehr helfen. In der Geburtshilfe gibt es aber getestete Mittel. Und oft werden Frauen nur manipulativ oder gar nicht \u00fcber Alternativen aufgekl\u00e4rt.<\/p>\n Im Schnitt nutzt jede zweite Klinik einer bisher unver\u00f6ffentlichten Umfrage der Universit\u00e4t L\u00fcbeck zufolge in Deutschland Cytotec zur Einleitung. Klinikleiter in M\u00fcnchen, Berlin und Worms argumentieren, dass Cytotec angenehm zu schlucken sei, Alternativen werden Frauen \u00fcber den Tropf eingefl\u00f6\u00dft oder in die Vagina eingef\u00fchrt. Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt den Wirkstoff Misoprostol, der in dem Medikament steckt, allerdings nur in geringen Dosen, die bei Amelie Reimann und anderen Frauen in Deutschland und Frankreich mitunter um das Doppelte bis Vierfache \u00fcberschritten wurden. Weil es nie eine Zulassungsstudie gab, berufen sich Kliniken auf Erfahrungswerte.<\/p>\n \u201eDie Hebamme hat mir die Tabletten einfach vor die Nase gehalten\u201c, sagt Reimann. Einen Aufkl\u00e4rungsbogen \u00fcber Risiken habe sie nie gesehen. Als sie drei Tabletten Cytotec geschluckt hatte, wurde ihr schlecht, sie \u00fcbergab sich, ihr damaliger Freund hielt ihr den Eimer hin. \u201eIch konnte nicht mehr denken. Es f\u00fchlte sich an wie Messerstiche in den K\u00f6rper.\u201c Reimann schaute immer wieder auf den roten Notfallknopf, aber sie traute sich nicht, nach der Hebamme zu klingeln. Sie sagt, sie wusste nicht, dass ihre Schmerzen nichts mit einer nat\u00fcrlichen Geburt zu tun haben.<\/p>\n Dosen und Zeitabst\u00e4nde, in denen Kliniken Cytotec verabreichen, bestimmen sie selbst. Das zeigt eine Umfrage der Hebammenwissenschaftlerin Christiane Schwarz aus L\u00fcbeck. \u201eJeder pusselt so vor sich hin\u201c, sagt Schwarz. Manchmal zerteile das Klinikpersonal die Tabletten einfach mit einem Messer und gebe der Frau ein St\u00fcck, so wie bei Amelie Reimann, dabei sei unklar, wie sich der Wirkstoff in der Tablette verteile.<\/p>\n Unter \u00c4rzten ist bekannt, dass nach der Gabe von Cytotec die Herzt\u00f6ne der Kinder abfallen k\u00f6nnen, dieses Ph\u00e4nomen nennen Hebammen im Gespr\u00e4ch mit SZ und BR die Cytotec-Wanne.<\/p>\n \u201eDie \u00c4rzte verschreiben Cytotec wie Bonbons\u201c, sagt eine Hebamme, die anonym bleiben m\u00f6chte.<\/p>\n \u201e\u00c4rzte geben Cytotec wie Zuckerl\u201c, sagt ein Gutachter.<\/p>\n Und ein M\u00fcnchner Klinikleiter sagt: \u201eWir wollen ja nicht pleitegehen.\u201c<\/p>\n Dabei gibt es Untersuchungen, die zeigen, dass es bei Cytotec h\u00e4ufiger zu einem Wehensturm kommen kann als bei den Alternativen. \u201eEs ist schon lange an der Zeit, diesen Unsinn mit Cytotec zu beenden\u201c, sagt Peter Husslein, Professor f\u00fcr Geburtshilfe und Leiter der Universit\u00e4ts-Frauenklinik Wien, der zu Wehent\u00e4tigkeit und Einleitungsmethoden forscht. Cytotec verwendet er nicht. \u201eDas Mittel ist weitgehend unkontrollierbar, und es gibt viel zu wenig Untersuchungen\u201c, sagt Husslein. \u201eEs hat viele m\u00fctterliche Todesf\u00e4lle verursacht. Es gibt f\u00fcr mich keinen Grund der Welt, warum ich als Arzt ein gef\u00e4hrliches nicht registriertes Medikament anwenden sollte.\u201c<\/p>\n Im vergangenen Jahr bezogen Apotheken Recherchen von SZ und BR zufolge mehr als eine Million Tabletten aus dem Ausland. Wie viele in der Geburtshilfe verwendet wurden, ist nicht dokumentiert.<\/p>\n Amelie Reimann hilft jetzt Emil aus dem Kindersitz, gerade hat sie ihn von der Integrationsschule abgeholt. Emil schreit, er will weiter Auto fahren. \u201eAch Hase\u201c, sagt Amelie Reimann.<\/p>\n Er bleibt kurz auf dem B\u00fcrgersteig stehen, l\u00e4uft zum Baum, streichelt ihn. Er will geradeaus gehen, dann links, dann rechts. Mit vier Jahren hat Emil laufen gelernt, seit Kurzem kann er rennen. Am Teich bleibt er stehen, steckt sich einen Finger in den Mund. \u201e\u00d6r\u201c, sagt Emil. \u201eEnte\u201c, sagt Reimann.<\/p>\n Die Klinik, in der Emil zur Welt kam, liegt nur wenige Hundert Meter entfernt. Amelie Reimann hat vor zwei Jahren ein Vergleichsangebot mit einer sechsstelligen Summe abgelehnt und verklagt die Klinik. \u201eDa kommt ja keiner auf dich zu und sagt, es tut mir leid\u201c, sagt sie. In ihrer Klage kann sie sich auf ein Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen st\u00fctzen, in dem steht, dass Emil nach der Gabe von Cytotec einen Sauerstoffmangel erlitten habe. Die Klinik will sich nicht \u00e4u\u00dfern. Amelie Reimann hat alle ihre Ersparnisse in die Klage gesteckt. \u201eWenn das schiefgeht, bin ich auch noch pleite.\u201c<\/p>\n Reimanns Medizinrechtsanw\u00e4ltin Ruth Schultze-Zeu hat regelm\u00e4\u00dfig mit Cytotec-F\u00e4llen zu tun, \u00c4hnliches berichten drei weitere Medizinrechtsanw\u00e4lte in Berlin und K\u00f6ln. Schultze-Zeu vertritt Eltern von Kindern, die mit Gehirnschaden auf die Welt kamen. Gerade bearbeitet sie den Fall eines M\u00e4dchens, das nach der Gabe von Cytotec und einem weiteren Wehenmedikament wenige Tage nach der Geburt starb. \u201eEs ist immer das gleiche Schema\u201c, sagt Schultze-Zeu. \u201eDie Frauen werden nicht aufgekl\u00e4rt, wir haben einen Wehensturm, der nicht mehr beherrschbar ist, es treten Komplikationen auf, und das Kind kommt mit einem schweren Schaden zur Welt.\u201c Klagen dieser Art ziehen sich oft \u00fcber Jahre hin, oft gibt es am Ende einen Vergleich.<\/p>\n In Deutschland und Frankreich gibt es erste Urteile. Ein Kind starb, drei erlitten einen Gehirnschaden, das Personal bekam die Komplikationen nach der Gabe von Cytotec nicht in den Griff, die Kliniken mussten Schadenersatz zahlen.<\/p>\n Das Medikament ist stark, es ist gef\u00e4hrlich, und seine Wirkung wurde im Feldversuch an Frauen ausprobiert. Marsden Wagner, der ehemalige Direktor des Fachbereichs f\u00fcr Kinder und Frauengesundheit bei der WHO, kritisierte in einem Interview, \u201eHunderte Frauen\u201c h\u00e4tten einen Geb\u00e4rmutterriss erlitten, es habe \u201eviele, viele tote Kinder gegeben\u201c, bevor man herausgefunden habe, dass man Cytotec nicht bei Frauen anwenden sollte, die zuvor einen Kaiserschnitt hatten, weil das vernarbte Gewebe empfindlich reagieren kann.<\/p>\n Cytotec kann aber auch gef\u00e4hrlich sein, wenn eine Frau ihr erstes Kind gebiert. Niklas rennt durch das Wohnzimmer, in der Hand h\u00e4lt er eines seiner Lieblingskuscheltiere, Destiny, den Walhai.<\/strong><\/p>\n Niklas hei\u00dft eigentlich anders, aber weil sein Vater um Schadenersatz k\u00e4mpft, will seine Familie anonym bleiben. Niklas ist vier Jahre alt und lernt gerade das Sprechen. Einige W\u00f6rter gehen schon ganz gut, \u201eMond\u201c oder \u201eEis\u201c. Den abgelutschten Eisstiel h\u00e4lt er jetzt Nina Jahn hin, \u201eMama\u201c Nummer eins. Sie sch\u00fcttelt den Kopf. \u201eDen kannst du alleine wegbringen.\u201c<\/p>\n Im Regal steht das Foto einer jungen Frau, sie h\u00e4lt eine Violine in ihrer Hand, l\u00e4chelt. Sofia Kusmir ist Niklas\u2019 Mama Nummer zwei, seine leibliche. Sie ist wenige Tage nach der Geburt gestorben. Auch Niklas kam mit Sauerstoffmangel zur Welt. Dass er heute durch die Wohnung flitzt, alleine auf die Toilette geht und selbst in die Schuhe schl\u00fcpft, grenzt an ein Wunder.<\/p>\n Sein Vater Alexander Mike kommt von der K\u00fcche ins Wohnzimmer. W\u00e4hrend er sich an die letzten Tage seiner damaligen Freundin erinnert, steht er immer wieder auf, l\u00e4uft zum K\u00fcchenfenster und raucht. Es ist jetzt vier Jahre her, als Sofia Kusmir mit Verdacht auf eine Schwangerschaftsvergiftung ins Krankenhaus kam. Die Geburt wurde mit mehr als 300 Mikrogramm Cytotec eingeleitet. \u201eDas Aufkl\u00e4rungsgespr\u00e4ch hat f\u00fcnf Minuten gedauert\u201c, sagt Alexander Mike.<\/p>\n Am Abend, an dem Sofia Kusmir ein drittes Mal eine 100-Mikrogramm-Dosis Cytotec schluckte, habe sie \u00fcber schlimme Bauchschmerzen geklagt. Man sagte ihr, eine Geburt sei schmerzhaft und wahrscheinlich werde es erst am n\u00e4chsten Tag so richtig losgehen. Alexander Mike ging kurz vor Mitternacht.<\/p>\n Den Krankenhausakten zufolge brach Kusmirs Kreislauf kurze Zeit sp\u00e4ter zusammen, die Plazenta hatte sich fr\u00fchzeitig gel\u00f6st. Sie starb sp\u00e4ter an Multiorganversagen. Laut dem vorl\u00e4ufigen Obduktionsgutachten gab es eine Blutung in der Bauchh\u00f6hle nach einem operativ behandelten Geb\u00e4rmutterriss. \u201eEs hie\u00df, wir haben die heutigen Grenzen der Medizin erreicht, und wir k\u00f6nnen f\u00fcr sie nichts mehr machen\u201c, sagt Mike. Er stand an der Glasscheibe und sah, wie sie die Ger\u00e4te abstellten.<\/p>\n Sein Sohn \u00fcberlebte. Niklas kommt schwach zur Welt, sein Leben h\u00e4ngt in den ersten Tagen an Ger\u00e4ten.<\/p>\n Georg Gerstner, ein Wiener Arzt, der als forensischer Gutachter arbeitet, schreibt \u00fcber diesen Fall, es bestehe \u201ekein Zweifel\u201c daran, dass ihr Tod und auch der Geburtsschaden von Niklas \u201edurch die Geburtseinleitung mit Cytotec verursacht wurde\u201c. Ein von der Staatsanwaltschaft beauftragter Gutachter urteilt, dass die Ursache von Sofia Kusmirs Kreislaufzusammenbruch ein \u201eerheblicher Wehensturm\u201c war, durch den sich die Plazenta abl\u00f6ste und Niklas unter drohendem Erstickungszustand zur Welt kam. Die verabreichte Menge Cytotec sei \u201ekritisch hoch\u201c. Die Klinik teilt mit, man habe sachgerecht gearbeitet, aufgekl\u00e4rt und sehe keine Verbindung zu Cytotec.<\/p>\n Die Staatsanwaltschaft hat die Ermittlungen eingestellt, auch weil es schwer ist, einem Arzt eine zu hohe Dosis vorzuwerfen, wenn es keinen festgeschriebenen H\u00f6chstwert gibt. Um die Frage, ob Cytotec den Todesfall ausl\u00f6ste, ging es in dem Verfahren nicht. Der Vater hat ein zweites Gutachten beauftragt, er hofft, dass die Ermittlungen wiederaufgenommen werden. \u201eEs geht um alle Frauen, die mal ein Kind bekommen\u201c, sagt Jahn.<\/p>\n M\u00fctter auf der ganzen Welt berichten von Problemen mit Cytotec. In Frankreich kam Tim\u00e9o unter Sauerstoffmangel auf die Welt, seine Mutter Aur\u00e9lie Joux ging an die \u00d6ffentlichkeit und gr\u00fcndete den Verein Tim\u00e9o et les Autres \u2013 Tim\u00e9o und die anderen. Dutzende Frauen fanden zusammen, auch drei M\u00fctter, die ihre Babys verloren hatten. Die franz\u00f6sische Gesundheitsbeh\u00f6rde ANSM warnt seither vor den schweren Nebenwirkungen von Cytotec.<\/p>\n \u00c4hnlich war es in den USA. Maddy Oden gr\u00fcndete vor sechzehn Jahren die Tatia Oden French Memorial Foundation, nachdem ihre Tochter und deren Baby nach der Gabe von Cytotec starben. Im M\u00e4rz 2007 reichte Maddy Oden eine Petition mit mehr als 1900 Unterschriften bei der US-Gesundheitsbeh\u00f6rde FDA ein und forderte strengere Pr\u00fcfungen von Cytotec.<\/p>\n In Deutschland warnt die \u00dcberwachungsbeh\u00f6rde BfArM nicht. Keiner der F\u00e4lle, die BR und SZ recherchiert haben, ist der Beh\u00f6rde bekannt, dabei ist das Kriterium f\u00fcr die Meldung einer unerw\u00fcnschten Wirkung allein der Verdacht.<\/p>\n \u00c4rzte sind nach dem Arzneimittelgesetz nicht verpflichtet, Nebenwirkungen anzuzeigen, das muss nur der Hersteller tun. Der aber ist auf \u00c4rzte angewiesen. Im Fall von Cytotec ist es besonders kompliziert. \u00c4rzte haften, wenn sie Cytotec innerhalb der Therapiefreiheit verschreiben, und m\u00fcssten sich selbst belasten. Vor zwei Jahren ergab eine Umfrage der Arzneimittelkommission der deutschen \u00c4rzteschaft, dass juristische Unsicherheiten zu den h\u00e4ufigsten Gr\u00fcnden z\u00e4hlen, warum \u00c4rzte Komplikationen nicht melden.<\/p>\n Die \u00dcberwachungsbeh\u00f6rde BfArM wei\u00df nichts von Emil, der mit acht noch eine Windel tr\u00e4gt, sie wei\u00df nichts von Niklas, den sein Vater jetzt Huckepack zum Grab der Mutter tr\u00e4gt. Niklas sagt \u201eMama\u201c zu dem Foto auf dem Grabstein und spricht ein paar S\u00e4tze in einer Sprache, die nur er und sein Vater verstehen. Es f\u00e4ngt an zu regnen, Niklas legt den Kopf in den Nacken und versucht, einen Tropfen mit seiner Zunge zu fangen. Ob Niklas irgendwann in der Lage sein wird, nach dem Tod seiner Mutter zu fragen, wei\u00df Alexander Mike nicht. Aber wenn er fragt, will er seinem Sohn eine Antwort geben.<\/p>\n Den kompletten Artikel k\u00f6nnen Sie auf der Website der S\u00fcddeutschen Zeitung nachlesen. Au\u00dferdem ist er in der Druckausgabe der S\u00fcddeutschen Zeitung vom 12.02.2020 (Seite 3) erschienen.<\/p>\nWie kann es sein, dass \u00c4rzte Cytotec trotzdem immer noch verschreiben?<\/h3>\n