{"id":1311,"date":"1995-05-23T10:04:10","date_gmt":"1995-05-23T08:04:10","guid":{"rendered":"https:\/\/ratgeber-arzthaftung.de\/de\/?page_id=1311"},"modified":"2019-11-28T17:18:20","modified_gmt":"2019-11-28T16:18:20","slug":"olg-hamm-urteil-vom-23-05-95-az-27-u-3093-2","status":"publish","type":"page","link":"https:\/\/ratgeber-arzthaftung.de\/de\/rechtsprechung\/urteile-verkehrsrecht\/olg-hamm-urteil-vom-23-05-95-az-27-u-3093-2\/","title":{"rendered":"OLG Hamm Urteil vom 23.05.95 AZ: 27 U 30\/93"},"content":{"rendered":"
Haftung des Verkehrssicherungspflichtigen bei Sturz eines schuldunf\u00e4higen Kindes von einem Flachdach; Schmerzensgeldanspruch wegen eines schweren gedeckten Hirntraumas mit Dauerfolgen; Anrechnung des Aufsichtsverschuldens der Mutter auf den Schadenersatzanspruch.<\/p>\n
1. 1. St\u00fcrzt ein minderj\u00e4hriges und noch nicht schuldf\u00e4higes Kind von einem Flachdach, auf das es – w\u00e4hrend eines Besuches mit seiner Mutter in einer fremden Wohnung – durch eine L\u00fccke im Balkongel\u00e4nder gelangt war, haftet der f\u00fcr den unsicheren Zustand des Balkongel\u00e4nders verantwortliche Wohnungsinhaber aus dem Aspekt der Verkehrssicherungspflichtverletzung in vollem Umfang f\u00fcr den eingetretenen Schaden.<\/p>\n
2. 2. Das Kind, das bei dem Sturz ein schweres gedecktes Hirntrauma sowie Hirnquetschungen erlitten hat und bei dem aufgrund von Dauerfolgen von einer Minderung der Erwerbsf\u00e4higkeit auf 40% auszugehen ist, hat einen Anspruch auf Schmerzensgeld, der mit 35.000 DM zu veranschlagen ist.<\/p>\n
3. 3. Die Haftung desVerkehrssicherungspflichtigen wird nicht dadurch relativiert, da\u00df das schuldunf\u00e4hige Kind (hier: Alter zum Unfallzeitpunkt etwa 1 3\/4 Jahre) ohne gen\u00fcgende Aufsicht seiner Mutter gewesen ist.\u00a0Deren Fremdverschulden braucht sich das Kind nicht wie ein eigenes Verschulden anrechnen zu lassen, da\u00df BGB \u00a7 278 Abs 1 im Rahmen der Mithaftung gem BGB \u00a7 254 Abs 1 nur bei bestehender Sonderbeziehung Anwendung findet und eine solche durch das Kindschaftsverh\u00e4ltnis nicht begr\u00fcndet wird.
\nDas Kind bildet mit seiner Mutter auch keine „Zurechnungseinheit“, weil es Schmelzung mit Gefahrerh\u00f6hungsbeitr\u00e4gen Dritter – geht und das Kind \u00fcberhaupt nicht schuldf\u00e4hig gewesen ist.\u00a0Daran scheitert auch eine Anwendung des BGB \u00a7 31. Der\u00a0Verkehrssicherungspflichtige kann sich auch nicht auf ein „gest\u00f6rtes\u00a0Gesamtschuldverh\u00e4ltnis“ mit der Mutter des Kindes berufen.
\nZwar kommt in Betracht, da\u00df diese allein wegen des geringeren Sorgfaltsma\u00dfstabes nach BGB \u00a7 1664 Abs 1 von einer Gesamtschuldnerhaftung gem BGB \u00a7 840 befreit ist, was einem Ausgleichsanspruch des Verkehrssicherungspflichtigen entgegenst\u00fcnde. Soweit jedoch die Mutter von der Haftung befreit ist, fehlt es bereits an einer Schadenzurechnung (auch) zu ihren Lasten und also an den Voraussetzungen eines Gesamtschuldverh\u00e4ltnisses.<\/p>\n
Fundstellen<\/strong> Auf die Berufung des Kl\u00e4gers wird unter Zur\u00fcckweisung seines weitergehenden\u00a0Rechtsmittels das am 3. Dezember 1992 verk\u00fcndete Urteil der 3. Zivilkammer\u00a0des Landgerichts Paderborn abge\u00e4ndert und wie folgt neu gefa\u00dft:\u00a0Die Beklagten werden verurteilt, als Gesamtschuldner an den Kl\u00e4ger 35.000,00\u00a0DM nebst 4 % Zinsen seit dem 30. September 1992 zu zahlen.\u00a0Es wird festgestellt, da\u00df die Beklagten verpflichtet sind, dem Kl\u00e4ger seinen k\u00fcnftigen materiellen und immateriellen Schaden aus dem Unfallereignis vom 14. Mai 1991 zu ersetzen, soweit seine materiellen Anspr\u00fcche nicht auf \u00f6ffentlich\u00adrechtliche Versicherungstr\u00e4ger \u00fcbergegangen sind. Das Urteil ist vorl\u00e4ufig vollstreckbar.<\/p>\n Die Berufung ist \u00fcberwiegend begr\u00fcndet.<\/p>\n Der Kl\u00e4ger kann die Beklagten gem\u00e4\u00df den \u00a7\u00a7 823, 847 BGB auf vollen Ersatz in Anspruch nehmen, da ihm beide Beklagten f\u00fcr den unsicheren Zustand des Balkongel\u00e4nders verantwortlich sind und er f\u00fcr eine etwaige Aufsichtspflichtverletzung seiner Mutter nicht einstehen mu\u00df (1). Als Schmerzensgeld h\u00e4lt der Senat einen Gesamtbetrag von 35.000,00 DM f\u00fcr angemessen (2).<\/p>\n Zutreffend hat das Landgericht die Absperrung der L\u00fccke in der Balkonbr\u00fcstung durch einen Rollhocker und das Geschlossenhalten der offenbar nicht verriegelten Balkont\u00fcr als unzureichende Vorsichtsma\u00dfnahmen angesehen. Dies mu\u00df sich auch die Erstbeklagte entgegenhalten lassen, ohne da\u00df es darauf ank\u00e4me, ob sie an der Beseitigung des Gel\u00e4nders mitgewirkt hat. Ihr war der Zustand bekannt und sie hat ebenso wie ihr Ehemann die Gefahrenstelle f\u00fcr Dritte zug\u00e4nglich gemacht, indem sie den Kl\u00e4ger und dessen Mutter in der Wohnung als Besucher empfangen hat. Es mag sein, da\u00df der Balkon von dieser Verkehrser\u00f6ffnung ausgeschlossen sein sollte. Das ist aber weder zum Ausdruck gelangt noch hinreichend sichergestellt worden. Vielmehr war die „Schwachstelle“ selbst f\u00fcr Kinder ohne weiteres zug\u00e4nglich, was angesichts der realisierten Absturzgefahr keiner Ausf\u00fchrung bedarf.<\/p>\n Die Haftung der Beklagten wird nicht dadurch relativiert, da\u00df der Kl\u00e4ger ohne gen\u00fcgende Aufsicht seiner Mutter gewesen ist. Deren Fremdverschulden braucht sich der Kl\u00e4ger nicht wie ein eigenes Verschulden anrechnen zu lassen, da \u00a7 278 BGB im Rahmen der Mithaftung gem\u00e4\u00df \u00a7 254 I BGB nur bei bestehender Sonderbeziehung Anwendung findet und eine solche durch das Kindschaftsverh\u00e4ltnis nicht begr\u00fcndet wird (vgl. Urteil des BGH vom 8. M\u00e4rz 1951 in BGHZ 1, 248 ff.). Der Kl\u00e4ger bildete mit seiner Mutter auch keine „Zurechnungseinheit“ (vgl. Urteil des BGH vom 18. April 1978 in VersR 78, 735 f.), weil es hierbei um das Einstehenm\u00fcssen f\u00fcr Eigenverschulden – wom\u00f6glich erh\u00f6ht durch Verschmelzung mit Gefahrerh\u00f6hungsbeitr\u00e4gen Dritter – geht und der Kl\u00e4ger \u00fcberhaupt nicht schuldf\u00e4hig gewesen ist. Daran scheitert auch die Anwendung des \u00a7 31 BGB (vgl. Urteil des KG vom 31. Oktober 1994 in NZV 1995, 109 f). Die Beklagten k\u00f6nnen sich ferner nicht auf ein „gest\u00f6rtes Gesamtschuldnerverh\u00e4ltnis“ mit der Mutter des Kl\u00e4gers berufen. Zwar kommt in Betracht, da\u00df diese allein wegen des geringeren Sorgfaltsma\u00dfstabes nach \u00a7 1664 I BGB von einer Gesamtschuldnerhaftung gem\u00e4\u00df \u00a7 840 BGB (vgl. dazu Urteil des BGH vom 16. Januar 1969 in BGHZ 73, 190 ff.) befreit ist, was einem Ausgleichsanspruch der Beklagten entgegenst\u00fcnde (vgl. Urteil des OLG Hamm vom 20. Januar 1992 in VersR 1993, 493 ff.). Soweit jedoch die Mutter des Kl\u00e4gers von der Haftung befreit ist, fehlt es bereits an einer Schadenszurechnung (auch) zu ihren Lasten und also an den Voraussetzungen eines Gesamtschuldnerverh\u00e4ltnisses (vgl. Urteil des BGH vom 1. M\u00e4rz 1988 in NJW 1988, 2667 ff. zu einem \u00e4hnlich gelagerten Fall).<\/p>\n Nach dem Gutachten des Sachverst\u00e4ndigen … sind die Verletzungen des Kl\u00e4gers au\u00dferordentlich gut verheilt. Bereits seit April 1992 ben\u00f6tigt der Kl\u00e4ger keine … antikonvulsive Schutzmedikation mehr und s\u00e4mtliche R\u00f6ntgen- sowie CT-Kontrollen zeigen eine zufriedenstellende Entwicklung der nunmehr kn\u00f6chernen gut \u00fcberbauten Fraktur. Lediglich im Bereich der linken Parietalschuppe findet sich eine etwas unregelm\u00e4\u00dfige, jedoch nicht eindr\u00fcckbare und nicht pulsierende kn\u00f6cherne Struktur des Sch\u00e4deldaches. Das Tragen eines Schutzhelms ist nicht mehr erforderlich. Als Restbefund verblieben ist nur eine diskrete rechtsseitige Hemisymptomatik mit Reflexsteigerung ohne klinische Relevanz. Ferner erscheint es zwar denkbar, da\u00df sich bei dem Kl\u00e4ger noch eine Anfallsmanifestation entwickeln k\u00f6nnte. Das ist jedoch eher unwahrscheinlich, zumal bislang keine zerebralen Anf\u00e4lle aufgetreten sind. Der Kl\u00e4ger mu\u00df allerdings mit dieser Unsicherheit leben und au\u00dferdem das – ebenfalls geringe – Risiko verkraften, da\u00df sich bei h\u00f6heren Leistungsanforderungen in der Schule noch unfallbedingte Defizite im Denkverm\u00f6gen ergeben k\u00f6nnen. Diese Bef\u00fcrchtungen gebieten zwar keine Entsch\u00e4digung in der vom Kl\u00e4ger vorgestellten Gr\u00f6\u00dfenordnung, stehen andererseits aber einer deutlichen Reduzierung der vom Landgericht aus damaliger Sicht zutreffend eingesch\u00e4tzten Bemessungsgrundlage entgegen.<\/p>\n Der Zinsausspruch folgt aus den \u00a7\u00a7 284 I, 288 I BGB.<\/p>\n Die Nebenentscheidungen beruhen auf den \u00a7\u00a7 92 I, 515 III, 708 Nr. 10 ZPO.<\/p>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":" OLG Hamm Urteil vom 23.05.95 AZ: 27 U 30\/93 Verkehrsrecht Haftung des Verkehrssicherungspflichtigen bei Sturz eines schuldunf\u00e4higen Kindes von einem Flachdach; Schmerzensgeldanspruch wegen eines schweren gedeckten Hirntraumas mit Dauerfolgen; Anrechnung des Aufsichtsverschuldens der Mutter auf den Schadenersatzanspruch. Orientierungssatz 1. 1. St\u00fcrzt ein minderj\u00e4hriges und noch nicht schuldf\u00e4higes Kind von einem Flachdach, auf das es – […]<\/p>\n","protected":false},"author":1,"featured_media":0,"parent":130,"menu_order":0,"comment_status":"closed","ping_status":"closed","template":"","meta":{"_mi_skip_tracking":false,"_exactmetrics_sitenote_active":false,"_exactmetrics_sitenote_note":"","_exactmetrics_sitenote_category":0,"footnotes":""},"acf":[],"yoast_head":"\n
\nRuS 1995, 455-456 (red. Leitsatz und Gr\u00fcnde)<\/p>\nTenor<\/h3>\n
\nDie weitergehende Klage wird abgewiesen.\u00a0Die Kosten des ersten Rechtzuges werden dem Kl\u00e4ger zu 27 % und den\u00a0Beklagten zu 73 % auferlegt.\u00a0Von den Kosten des Berufungsrechtszuges tragen der Kl\u00e4ger 36 % und die\u00a0Beklagten 64 %. Die Kosten der Streithelferin werden den Beklagten zu 64 %\u00a0auferlegt und dieser selbst zu 36 %.<\/p>\nTatbestand<\/h3>\n
\n
Entscheidungsgr\u00fcnde<\/h3>\n