Urteile Verkehrsrecht

OLG Karlsruhe Urteil vom 9.3.1979 AZ: 14 U 156/77

Verkehrsrecht

Verkehrssicherungspflicht der Gemeinde – Aufsichtspflicht der Eltern – Schmerzensgeld Sonstiger.

Orientierungssatz

1. Eine Gemeinde verletzt die Verkehrssicherungspflicht, wenn eine Treppe einer nahezu fertiggestellten Mehrzweckhalle von jedermann begangen werden kann und sich zwischen dem Aufgang und der Eingangstür ein 24,5 cm breiter und 4 m langer Spalt befindet, durch den jedenfalls ein Kind 4 m tief auf eine darunter befindliche Betonplatte stürzen kann.

2. Eine Verletzung der Aufsichtspflicht für ein 10jähriges Mädchen durch die es begleitenden Eltern kommt dann nicht in Betracht, wenn die Gefahr beim Begehen der Treppe nicht erkannt werden kann und die Treppe selbst durch ein Geländer gesichert ist.

3. 8.000 DM Schmerzensgeld für mehrfache Brüche beider Füße und eines 4. Wirbelkantenabbruchs des 1. und 2. Lendenwirbels bei einem 5. Krankenhausaufenthalt von etwa 6 Wochen. BGH Urteil 16.1.1979 AZ: VI ZR 243/76 Zur Mithaftung einer Mutter bei Verletzung ihres Kindes durch ein Kfz.

Leitsatz

Ist für dieVerletzung eines Kleinkindes sowohl das Verschulden eines Dritten ursächlich geworden als auch der Umstand, daß ein Elternteil diejenige Beaufsichtigung versäumt hat, die ihm gerade in seiner elterlichen Eigenschaft oblag, dann haften Dritter und schuldiger Elternteil als Gesamtschuldner.

Tatbestand

1 Die Klägerin, eine allgemeine Ortskrankenkasse, begehrt von der Beklagten als Kraftfahrzeughaftpflichtversicherer gemäß § 1542 RVO Ersatz für Heilbehandlungskosten, die ihr aus Anlaß der Verletzung des bei ihr familienversicherten Kindes W. G. entstanden sind.

2 Das zur Unfallzeit 2 3/4 Jahre alte Kind hatte sich mit seiner Mutter in einem Ladenlokal einer kleinen Ortschaft aufgehalten, war jedoch dort der Mutter ausgerissen und hüpfte auf der Gehwegfläche vor dem Laden umher. Die Mutter bemerkte dies bei einem Blick durch die Schaufensterscheibe, holte das Kind aber nicht in den Laden zurück. Beim Umherhüpfen geriet das Kind auf die Fahrbahn. Hier wurde es durch den vorüberfahrenden Pkw eines Versicherungsnehmers (VN) der Beklagten erfaßt und verletzt.

3 Die Beklagte hält dem Ersatzanspruch der Klägerin ua entgegen, das Kind müsse sich ein Mitverschulden seiner Mutter anrechnen lassen, weil die Mutter ihrer Aufsichtspflicht nicht genügt und dadurch zum Schadenseintritt beigetragen habe.

4 Das Landgericht hat die Beklagte antragsgemäß verurteilt. Auf deren Berufung hat das Oberlandesgericht den von der Beklagten zu zahlenden Betrag um den auf 1/3 bemessenen Haftungsanteil der Mutter gekürzt. Mit ihrer insoweit zugelassenen Revision tritt die Klägerin dieser Auffassung des Berufungsgerichts entgegen.

Entscheidungsgründe

II 7 1. Das Berufungsgericht beschränkt den Rückgriffsanspruch der Klägerin in entsprechender Anwendung des § 67 Abs 2 VVG auf die Haftungsquote, die nach Abwägung der beiderseitigen Verursachungsbeiträge zwischen der Mutter des Kindes und dem Versicherungsnehmer der Beklagten letzterer zu tragen habe. Hierfür stützt es sich auf die Rechtsprechung des Senats zum gestörten Innenausgleich zwischen Gesamtschuldnern. Es meint weiter, im Rahmen dieses Ausgleichs könne die Haftungserleichterung der §§ 1664 Abs 1, 277 BGB der Beklagten nicht entgegengehalten werden, weil sie nur im Innenverhältnis zwischen Mutter und Kind wirkt. Davon abgesehen habe die Mutter auch unter Zugrundelegung dieses milderen Haftungsmaßstabes schuldhaft gehandelt.

8 a) Zutreffend geht das Berufungsgericht davon aus, daß sich das verletzte Kind das Verschulden seiner Mutter außerhalb einer rechtlichen – insbesondere vertraglichen – Sonderverbindung nicht unmittelbar anrechnen lassen muß (§ 254 Abs 1 BGB). Dies entspricht der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGHZ 1, 148, 251; zuletzt Senatsurteil vom 29. Oktober 1974 – VI ZR 159/73 -VersR 1975, 133, 134f mwN). Die Revision greift dies als ihr günstig nicht an.

9 b) Das Berufungsgericht lehnt auch mit Recht eine Anwendung der Billigkeitsvorschrift des § 829 BGB ab. Für sie ist in aller Regel kein Anlaß, wo der unbedachten Selbstgefährdung eines noch sehr kleinen Kindes die Gefährdungshaftung des § 7 StVG gegenübersteht, in deren Höchstgrenzen sich hier der Klageanspruch hält, und die im Regelfall immer von der Pflichtversicherung gedeckt wird. Dies entspricht auch der, soweit ersichtlich, ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl etwa Senatsurteil vom 26. Juni 1973 – VI ZR 47/72 -VersR 1973, 925 mN).

10 2. Gleichwohl ist dem Berufungsgericht beizutreten, soweit es eine Beschränkung des mit der Klage verfolgten Anspruchs für richtig hält.

11 a) Das Berufungsgericht, das deshalb die Revision zugelassen hat, folgt mit Recht nicht einer Rechtsprechung des Reichsgerichts, wonach zwischen einer Haftung dem Kinde gegenüber aus Verletzung der familienrechtlich begründeten Fürsorgepflicht und derjenigen aus Schädigung des Kindes durch die unerlaubte Handlung eines Dritten schlechthin kein Gesamtschuldverhältnis begründet werden könne. Diese Auffassung ist jedenfalls in der Form, wie sie schließlich in dem Urteil Gruchot Beitr 65, 477 vom 28. Februar 1921 Ausdruck gefunden hat, mit dem System des Deliktsrechts nicht vereinbar, mögen auch (dort in Bezug genommene) frühere Reichsgerichtsentscheidungen (vor allem RGZ 75, 251) einer wohlwollenderen Deutung zugänglich, also möglicherweise nur mißverständlich sein.

12 In der Entscheidung vom 28. Februar 1921 unterstellt das Reichsgericht, der Vater des Kindes habe durch ungenügende Beaufsichtigung ermöglicht, daß dieses durch die Eisenbahn verletzt worden ist. Gleichwohl hält es einen Ausgleichungsanspruch der Eisenbahn gegen ihn von vorneherein für ausgeschlossen, weil dem Vater nicht eine allgemeine Rechtspflicht zur Behütung des Kindes obgelegen habe. Diese verfehlte Betrachtungsweise hat auch in neuerer Zeit noch Billigung gefunden (Dölle, Familienrecht Bd II S 165 bei § 92 I 5 aE; bedenklich auch Böhmer MDR 1966, 648, 649; zumindest mißverständlich Wussow Unfallhaftpflicht 12. Aufl Rz 564; ders W I 1968, 51 und 1976, 148; richtig dagegen etwa Erman BGB § 1664 Rdn 6 aam). Das genannte Urteil des Reichsgerichts übersieht offensichtlich, daß sich die Verletzung eines deliktsrechtlich geschützten Rechtsgutes (hier der Gesundheit) auch durch die Unterlassung einer aus einer Sonderverbindung entspringenden Pflicht verwirklichen kann, wie hier der elterlichen Fürsorgepflicht oder auch einer Aufsichtspflicht, die durch Vertrag übernommen ist und deshalb gerade nicht jedem Dritten in gleicher Weise obläge.

13 Der Ausgangspunkt der genannten Rechtsprechung ist insofern richtig, als zwischen der Schadensersatzpflicht des Schädigers und der davon unabhängigen Pflicht der Eltern, aus §§ 1601ff BGB, für die unfallbedingt erhöhten Bedürfnisse des Kindes aufzukommen, ein zur Ausgleichung führendes (echtes) Gesamtschuldverhältnis nicht bestehen kann. Richtig ist ferner, daß bei einer Fallkonstellation wie der jetzt zur Entscheidung stehenden für eine Anwendung der Vorschrift des § 832 BGB kein Raum ist (so zutreffend OLG Oldenburg NdsRPfl 1974, 135). Denn der dort unter Beweislastumkehr statuierte Haftungstatbestand betrifft keine Haftung dem Beaufsichtigten (hier dem Kind) gegenüber; nur eine solche aber könnte zu einer Ausgleichungspflicht führen.

14 Jedenfalls in der oben genannten Entscheidung Gruchot Beitr 65, 477 hat das Reichsgericht aber offensichtlich übersehen, daß eine Körperverletzung im Sinne des § 823 Abs 1 sowie Abs 2 BGB, letzterenfalls in Verbindung mit § 230 StGB (vgl OLG Nürnberg VersR 1973, 720), auch durch die Verletzung einer irgendwie gearteten Obhutspflicht gegenüber dem Verletzten begangen werden kann (vgl etwa Deutsch, Haftungsrecht, Allgemeiner Teil § 10 III 4 = S 128f). Daß insoweit eine familienrechtlich begründete Obhutspflicht eine Ausnahme begründen soll, ist nicht einzusehen.

15 Damit kommt es für den zur Entscheidung stehenden Fall nicht mehr darauf an, daß hier die Mutter schon dadurch, daß sie das Kleinkind zum Einkauf mitgenommen hatte, wohl auch eine jedem Dritten damit in gleicher Weise anfallende allgemeine Rechtspflicht zu dessen Beaufsichtigung übernommen und verletzt hat, ohne daß es dabei auf ihre Elterneigenschaft ankäme, und daß deshalb hier wohl auch das Reichsgericht eine zur Ausgleichung verpflichtende Haftung bejaht haben würde (vgl RG GruchB 56, 586 = JW 1912, 190).

16 b) Daß eine Haftung der Mutter dem Kind gegenüber ungeachtet der Vorschrift des § 1664 BGB gegeben ist, stellt das Berufungsgericht ohne Rechtsfehler fest. Denn es schließt aus der Bekundung der Mutter, ihr sei das Kind „ausgekommen“ (dh entlaufen), und sie habe sich gleichwohl davon abhalten lassen, es alsbald zurückzuholen, daß sie hier eine Vorsichtsmaßnahme vernachlässigt hat, die sie selbst als geboten ansieht. Diese tatrichterliche Würdigung ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden. Infolgedessen kann hier von einer Anwendung der sog diligentia quam in suis keine Rede sein, so daß es auch auf die Frage, ob diese Haftungserleichterung etwa nur gegenüber Ansprüchen aus der Verletzung bloß familienrechtlich begründeter Sorgfaltspflichten gilt, nicht ankommt.

17 Daher begrenzt das Berufungsgericht zutreffend den Umfang der auf die Klägerin gemäß § 1542 RVO übergegangenen Ersatzansprüche des verletzten Kindes in entsprechender Anwendung des § 67 Abs 2 VVG (BGHZ 41, 79) auf den Haftungsanteil, den der Zweitschädiger (der Versicherungsnehmer der Beklagten) im Innenverhältnis zum Erstschädiger (der Mutter des verletzten Kindes) zu tragen haben würde. Dies entspricht der Rechtsprechung des Senats und beruht auf der Erwägung, daß der dem § 67 Abs 2 VVG zugrundeliegende Zweck – Mutter und Kind leben in häuslicher Gemeinschaft – angesichts des sozialen Schutzzwecks öffentlicher Versicherungsleistungen erst recht dann durchschlägt, wenn es sich um den Forderungsübergang auf einen Sozialversicherungsträger nach § 1542 RVO handelt (vgl Senatsurteil vom 14. Juli 1970 – VI ZR 179/68 = BGHZ 54, 256).

18 c) Demgegenüber meint die Revision, die Ausführungen des Berufungsgerichts darüber, daß sich die Mutter nicht im Rahmen ihrer sonst geübten Sorgfalt gehalten habe, seien keine tatrichterliche Feststellung, sondern nur eine „beiläufige Bemerkung“. Darin kann ihr nicht gefolgt werden. 19 Der Senat braucht daher nicht zu entscheiden, wie die Rechtslage wäre, wenn die Mutter das Haftungsprivileg des § 1664 Abs 1 iVm § 277 BGB doch zugute käme. Dann könnte sich fragen, ob die Freistellung der Mutter ebensowenig zu Lasten eines dritten Schädigers gehen würde, wie dies in dem Senatsurteil BGHZ 35, 317 hinsichtlich der Schädigung einer Ehefrau durch den Ehemann (BGB § 1359) entschieden worden ist, oder ob gemäß der weiteren Rechtsprechung des Senats zum Bereich des „gestörten Innenausgleichs“ (vgl BGHZ 61, 51) der weitere Klaganspruch schon deshalb scheitert, weil insoweit ein übergangsfähiger Anspruch des Kindes gar nicht bestanden hat.